2021-07 Diskussion aktueller Konzepte zur Quartiersabgrenzung für immobilienwirtschaftliche Zwecke
Hausarbeit im Modul
„Immobilienmarktentwicklung, Stadt- und Quartiersentwicklung (BR 03)“
bei Prof. Dr. Prof. Dr. Torsten Bölting
an der EBZ Business School,
University of Applied Sciences, Bochum
Eingereicht von: Dieter Wehrkamp
Hamburg, 10. Juli 2021
1. Einleitung
Die vorliegende Hausarbeit beschäftigt sich mit aktuellen Konzepten zur Quartiersabgrenzung aus Sicht der Immobilienwirtschaft.
Für den Begriff Quartier existiert keine allgemeinverbindliche, genau umrissene Definition, verallgemeinernd bedeutet er je nach Betrachtungsweise der beteiligten Personen und verschiedenen Interessengruppen unterschiedlich große Teilbereiche von Stadteilen oder ganzen Städten.
Daher wird zunächst der Begriff Quartier im Allgemeinen und in Abgrenzung zu den ähnlichen Worten Stadtteil und Kiez beschrieben, dann in einem zweiten Schritt relevante Kriterien für Quartiersabgrenzungen aus der Sichtweise der Sozialwissenschaften, Verwaltung und Kommunen, Nutzern und vor allem der Akteure in der Immobilienwirtschaft benannt.
Auf dieser Grundlage werden im Hauptteil der Arbeit verschiedene methodische Ansätze und Analyseverfahren zur Abgrenzung einzelner Quartierseinheiten nach funktionalen, sozialen und Homogenitätsprinzipien vorgestellt und ihre Relevanz für bestimmte Personen- oder Nutzergruppen, wie Wohnumfeldbetrachtungen oder Quartiersbetrachungen aus Projektentwicklersicht beschrieben.
Darauf aufbauend folgt eine Bewertung maßgeblicher Ansätze zur Quartiersdefinition aus immoblienwirtschaftlicher Sicht und es wird versucht abzuschätzen, wie aktuelle Entwicklungen und Trends die Konzeptansätze beeinflussen und wo Optimierungspotentiale für die Zukunft aufzeigbar sind:
- Ist das Leitbild der europäischen Stadt mit sich gegenseitig überlagernden Funktionen auch künftig attraktiv für die Wohnungssuchenden, wie kann es verstärkt werden?
- Bietet der Megatrend Digitalisierung neue Chancen und Potentiale für die Immobilienwirtschaft vor dem Hintergrund des Wandels von einer produzierenden hin zu einer überwiegenden Dienstleistungsgesellschaft mit engerer Verzahnung von Wohnen und Arbeiten (mobil/im Homoffice)?
- Hat die aktuelle Nachhaltigkeitsdiskussion Auswirkungen auf die Bestimmung von Quartieren?
2. BEGRIFF QUARTIER
2.1 Allgemeine Definition
Das Wort Quartier stammt laut DUDEN-online aus dem Französischen und kann in erster Linie mit Unterkunft oder Herkunft übersetzt werden als Teil (eines Heerlagers) und bezieht sich auf das lateinische quartarius, übersetzt Viertel (quartus, Quart)
.
Im Sinne von Gebrauch wird das Wort Quartier vor allem in der Schweiz als Bezeichnung für Wohnlagen angewendet.
Der Begriff wird heute hauptsächlich im Städtebau und in städtebaulichen Untersuchungen oder Forschungen benutzt, ähnlich verwendete Bezeichnungen sind Stadtviertel, Stadtgeviert, Stadtquartier oder Wohnviertel.
Eine allgemein anerkannte und konkrete Definition des Begriffes in Wissenschaft und Praxis existiert nicht, es handelt sich um einen komplexen und offenen Begriff im Sinne von kleineren, überschaubaren Bezugssystemen innerhalb von Städten, die sich in ihrer Zusammensetzung von anderen unterscheiden lassen. Quartiere sind kleiner als administrativ festgelegte Stadtteil aber größer als das direkte Wohnumfeld oder die unmittelbare Nachbarschaft.
Bezogen auf den Aspekt Wohnen wird häufig auch der Begriff Kiez anstelle von Quartier verwandt. Hierzu stellt D. Flothmann fest: „Was jedoch festgehalten werden kann, ist, dass sich die Bewohner*innen eines Kiezes mit diesem subjektiv bestimmten, abgegrenzten Ort identifizieren, ihren Wohnort dort haben und es vermutlich eine ähnliche Mentalität der Mitmenschen ist, die zu einem „Wir-Gefühl“ führt. Eine klare Unterscheidung zum Quartiersbegriff ist nicht direkt möglich, jedoch kann davon ausgegangen werden, dass der Kiez noch kleinteiliger gefasst ist [1].
Abbildung 1: Das Quartier als Wohn- und Lebensmittelpunkt[2]
Quartiersabgrenzungen können daher nicht allgemeingültig bestimmt werden, sondern müssen themenbezogen und aus Sicht der jeweils Auftraggebenden erfolgen.
Daher erscheint es sinnvoll, aufbauend auf einer allgemeinen Betrachtung des Begriffes Quartier aus unterschiedlichen Interessenlagen, fallbezogen alle notwendigen und entscheidenden Parameter für eine individuelle Quartiersbestimmung als Basis für die folgende Auswahl von Analysemethoden und die spätere Auswertung festzulegen.
Verschiedene Ansätze und Sichtweisen zu sinnvollen Quartiersabgrenzungen werden im Folgenden genannt.
.1 Sozialräumliche Perspektive
Quartier „…bezeichnet einen sozialen Raum, der kleiner sein kann als ein (administrativ abgegrenzter) Stadtteil aber durchaus vielfältiger ist als ein Wohngebiet, das unter Stadtplanern wirklich nur dem Wohnzweck dient.
Aus Sicht der bewohnenden Individuen bedeutet Quartier den Raum, in dem bestimmte soziale Funktionen wahrgenommen werden können. Da sich das Interesse an diesen Funktionen individuell unterscheidet, unterscheiden sich auch die Vorstellungen zum Umfang des eigenen Quartiers voneinander. Eine Quartiersbildung in diesem Sinn kann daher nur als Summe oder Schnittmenge individueller sozialer Sphären erfolgen.
Diese sozialräumliche Binnenbetrachtung von Quartieren ist insbesondere für alle Bewohnergruppen wichtig, die nicht über eine hochgradige Mobilität verfügen und auf Angebote in der Nähe angewiesen sind (Kinder, jüngere Jugendliche, Familien, Menschen mit individuellen Behinderungen, ältere Personen…).
Wichtig ist dieser Betrachtungsansatz auch für den Leitansatz Integration statt Segregation, da sich beispielsweise stark migrantisch geprägte Quartiere oft in billigeren Wohngegenden bilden, da nur hier ausreichend günstige Mietangebote vorhanden sind. In Folge sinkt das Image, wichtige Ankermieter verlassen das Quartier und die soziale Interaktion mit anderen Stadtteilen nimmt ab, auch infolge eines niedrigeren Einkommens- oder Transferleistungsniveaus.
2.3 Räumlich/geografische Perspektive
In diesem Sinn kann ein Quartier als kleinräumige Abgrenzung eines überschaubaren, häufig nur aus einigen Straßenzügen bestehenden Bezugssystems verstanden werden, das durch einheitliche oder ähnliche Bebauungen gekennzeichnet ist und von anderen Quartieren eindeutig durch Grünzüge, trennende Hauptverkehrssachsen, angrenzende Bereiche mit speziellen Funktionen wie zum Beispiel Industriegebiete oder durch topografische Besonderheiten wie Flüsse oder Höhenrücken abgegrenzt werden kann.
2.4 Administrativ/politische Perspektive
Administrativ bilden Quartiere Untereinheiten von Stadtteilen oder Stadtbezirken, sichtbar beispielsweise in Form von Wahlkreisgrenzen, Postleitzahlbereichen oder in den Einteilungen statistischer Datensätze.Quartiere sind aus dieser Sicht Orte der Regelung der Daseinsvorsorge durch die Städte und Basis zur Entwicklung kleinteiliger Einzelperspektiven Quartiere sind aus dieser Sicht Orte der Regelung der Daseinsvorsorge durch die Städte und Basis zur Entwicklung kleinteiliger Einzelperspektiven zu Wohnen, Mobilität, Umwelt, Handel und Wirtschaft, die dann auf Quartiersebene horizontal querschnittsorientiert verknüpft und koordiniert werden müssen.
Politisch sind Quartiere Zielorte der Bauleitplanung und Teile von diversen Förderungsprogrammen oder -bausteinen auf Bundes- und Landesebene, übergreifenden Programmen wie dem Stadtumbau Ost und West und den Regionalfonds der EU. Ausbau und Förderung der Nahmobilität ist dabei ein wichtiger Themenschwerpunkt zur Weiterentwicklung von Quartieren.
Der Begriff Quartierspolitik steht im umgangssprachlichen Sinne für eine Politik “vor Ort”, also im direkten Lebensumfeld der Wähler und überschneidet sich daher mit einer sozialräumlichen Abgrenzung von Quartieren.
2.5 Normative Perspektive
Einen weiteren, allerdings eher untergeordneten, Ansatz für Quartiersabgrenzungen sind Betrachtungen unter Leitbildgedanken wie altengerechte Quartieren, auch in Verbindung mit dem Begriff “Care-Points“-Zentren als Reaktion auf die aktuelle demografische Entwicklung der Bevölkerung in Deutschland mit künftig geringerer Personenzahl, dafür aber einem steigenden Anteil älterer Mitbürger mit perspektivisch höherem Pflegebedarf .
Für den dritten Trend zu offenen, vielfältigeren Lebensformen kann ein Quartier unter Gesichtspunkten wie Integration oder Segregation, vor allem für Bewohner mit Migrationshintergrund, betrachtet werden.
Mit Hilfe von Leitbildern oder Leitlinien lassen sich Planungsziele für die Öffentlichkeit veranschaulichen und programmatische gesamtstädtische Vorgaben und Funktionszuweisungen konkretisieren.
2.6 Funktionale Perspektive
Im einfachsten Fall können Quartiere durch eine monofunktionale Nutzung bestimmt werden. Diese Funktionstrennungen entstanden als Reaktion auf die Charta von Athen 1933 mit dem Ansatz, die bisherige klassische Urbanität im Sinne von Wohn- und Lebensmittelpunkt mit gemischten Nutzungen für Arbeiten, Einkauf, Wohnen und Freizeitaktivitäten durch funktional voneinander getrennte Bereiche zu ersetzen. Die Stadtplanungen der Nachkriegszeit folgten vielfach bis in die 1970er-Jahre dem Ansatz einer konsequenten Funktionstrennung ohne Austauschbeziehungen innerhalb eines Quartiers.
Beispiele sind reine Büroviertel (CBD Central Business District oder Back Office in der Peripherie), die VW-Autostadt in Wolfsburg oder Großsiedlungen der 70-er Jahre wie der Neuen Vahr in Bremen oder Mümmelmannsberg in Hamburg.
2.7 Immobilienwirtschaftliche Perspek-tiven
Aus immobilienwirtschaftlicher Sicht werden Quartiere vor allem aus einer Vermieterperspektive, also einer Binnenansicht, betrachtet. Kriterien sind Lage- und Quartiersqualität von Immobilien als Basis für Markterfolg und kurzfristig erzielbare Renditen.
Bewertet werden übergeordnet subjektive und kleinräumig objektive Merkmale jenseits der konkreten Eigenschaften einer Immobilie, um Entwicklungspotentiale ableiten zu können.
Projektentwickler übernehmen zunehmend auch die Entwicklung von Gesamtkonzepten für Areale, die einer stadtplanerischen Überarbeitung bedürfen, nach Bereitstellung des städtebaulichen Instrumentariums durch die Kommune einschließlich der Schaffung von Baurecht, und vorhabenbezogenen B-Plänen. Kommunale und private Planungen verzahnen sich zunehmend.
Kommunale Wohnungsunternehmen erfüllen im weiteren Sinn ihren Versorgungsauftrag zur Schaffung und Bereitstellung von günstigem Wohnraum für bestimmte Zielgruppen, indem sie auch das nähere Umfeld mit seinen Angeboten und Versorgungsmöglichkeiten betrachten und gestalten mit dem Ziel, durch Imageverbesserungen eines Quartiers die Wohnzufriedenheit der Mieter zu erhöhen.
Damit unterstützen auch sie als Kooperationspartner von Städten oder Kommunen deren Handlungskonzepte und entwickeln sie auf kleinräumlicherer Ebene fort.
Ein ganzer neuer Aspekt ist die Betrachtung von Wohnquartieren aus energetischer Sicht zur Erfüllung aktueller Energieeinsparvorgaben. Über den Quartiersansatz mit übergeordneten/kombinierten Maßnahmen können diese Effekte kostengünstiger als über die energetische Sanierung einzelner Wohnungen und Häuser erreicht werden.
2.8 Fazit
O.-Schnur 2012: „Ein Quartier ist ein kontextuell eingebetteter, durch externe und interne Handlungen sozial konstruierter, jedoch unscharf konturierter Mittelpunkt-Ort alltäglicher Lebenswelten und individueller sozialer Sphären, deren Schnittmengen sich im räumlich-identifikatorischen Zusammenhang eines überschaubaren Wohnumfelds abbilden“.
3. Ansätze zur Quartiersabgrenzung
3.1 Wohnumfeldbetrachtungen
Wohnumfeldbetrachtungen sind vor allem für die Wohnungswirtschaft unter den Gesichtspunkten Wohnzufriedenheit und Quartierimage interessant.Neben Homogenitätskriterien in baulicher Hinsicht oder räumlich aufgrund ähnlicher Siedlungsstrukturen und topographischen Gegebenheiten, die erste Ansätze für eine Einteilung
Quartiersbildungen im urbanen/klassischen Sinn als Lebenswelt, ausgedrückt in der Places-Theorie:
- Wo beginnt und endet individuell empfunden das persönliche Quartier?
- Welche Bausteine gehören über das direkte Wohnumfeld (First Place) hinaus zu einem Quartier?
- Welche Arbeitsmöglichkeiten sind gegeben (Second Place [1])
- Welche Einkaufsmöglichkeiten, Versorgungseinrichtungen, Bildungs- und Kulturangebote, Freizeitmöglichkeiten etc. sind vorhanden (Third Place [2]) und persönlich wichtig?
Weitere Bewertungskriterien sind aus soziologischer Sicht Sicherheit, Ruf, Ansehen einer Wohngegend, Sauberkeit, Nachbarschaftliche Verhältnisse, Bevölkerungsstruktur (Alter, Herkunft, Nationalitäten, Einkommensstrukturen, Haushaltssituationen…), Soziale Einrichtungen und Initiativen wie Altenpflege, Medizinische Einrichtungen, Beratungsangebote.
Als allgemeine Bewertungskriterien ergänzen die Aspekte Zustand der Außen-und Grünanlagen, Spielplätze und Treffpunkte den Kriterienkatalog.
Im Ergebnis ergeben sich jeweils individuell unterschiedliche Quartiersabgrenzungen, aus den Schnittmengen ihrer Überlagerungen lassen sich sinnvolle allgemeine Quartiersabgrenzungen bestimmen.
3.2 Portfoliobetrachtungen
Unter Projektentwicklungsaspekten werden Quartiere aufgrund ihres Images, der „Adresse“ oder „Lage“, als Teilaspekt zur Optimierung von Renditen und Verkauf betrachtet und definiert.
Im Gegensatz zu sozialräumlichen Wohnumfeldbetrachtungen, die primär als Grundlage für Verbesserungen der Ist-Situation genutzt werden, stehen bei Portofoliobetrachtungen künftige Entwicklungen und Trends im Fokus. Welche Stärken sind vorhanden oder können ausgebaut werden, welche Potentiale können entwickelt werden? Wo gibt es noch Schwächen oder schwache Stadtteile, bei denen Investitionen aus wirtschaftlicher Sicht kritisch beurteilt werden müssen?
Es handelt sich auch hier überwiegend um Wohnumfeldbetrachtungen, interessant sind diese Ansätze aber auch für Ergänzungen monofunktionaler Stadt(teil)bereiche mit zusätzlichen Versorgungseinheiten oder die Konversation ehemaliger Industriestandorte als Kristallisationspunkte für neue gemischtgenutzte Stadt- und Trendquartiere im urbanen Sinn.
3.3 Statistische Abgrenzungen
Für kommunale Zwecke mit dem Ziel, bestimmte Teilbereiche für Förderungsmaßnahmen auszuwählen, können individuell festgelegte Auswertungen vorhandener statistischer Daten zu baulich-räumlichen oder sozialen Strukturen ein geeignetes Mittel bilden.
Mögliche Auswahlkriterien sind folgende
Abbildung 2: Quartiersdaten
Wohnungspolitische Leitlinien können damit zielgruppengenau umgesetzt werden.
4. Methodische Ansätze
4.1 Auswertungen vorhandener statistischer Datensätze
Aus Sichtungen und Auswertungen der Datenbestände von Kommunen (Einwohnermelde- und Statistikämter,) der Länder und des Bundes, von Forschungsinstituten, Wohnungsunternehmen, Leistungsträgern im Quartier und Internetportalen wie Immoscout24 oder nebenan.de können durchschnittliche Richtwerte ermittelt und erste Anhaltspunkte zu einer sinnvollen Quartiersabgrenzung bestimmt werden.
Interessant sind vor allem Daten zur Geschichte der Stadtviertel, Verkehr und Mobilität, Bevölkerungsstruktur (Alter, Herkunft, Nationalitäten, Einkommensstrukturen, Haushaltssituationen), Nachbarschaften, Image der Gebiete, Infrastruktur mit Gewerbe, Dienstleistungen, Sozialen Diensten, kommunale Einrichtungen, Vereine und Initiativen [2].
Da diese Daten unterschiedlich und in der Regel nicht so kleinräumig wie benötigt angeboten werden, hat sich hier ein Markt für verschiedene Institute und Organisationen aufgetan, fertige Datenaufbereitungen auf den Einzelraum bezogen zu liefern.
Ein Beispiel stellt hierzu das SQIS-Konzept (Strategisches Quartiersinformationssystem) der InWIS Forschung & Beratung GmbH, Bochum dar. Das Angebot besteht aus einer auftragsbezogenen und kleinräumig aufbereiteten Analyse verschiedener soziodemographischer, sozioökonomischer, Markt-, Bestands- und Infastrukturdaten, die mit Zielgruppenbefragungen, wie folgend beschrieben, kombiniert werden können.
Darüber hinaus können unterschiedliche Wichtungen einzelner Aspekte/Fragen festgelegt und ihre Relevanz gegenüber Gesamtaussagen zu einzelnen Untersuchungsbereichen vorgenommen werden.
4.2 Befragungen vor Ort
Insbesondere für Wohnumfeldbetrachtungen eignen sich klassische Befragungen der im Untersuchungsgebiet Wohnenden entweder mittels Fragebogen zu vorher erarbeiteten Themenstellungen oder durch die sogenannte Nadelmethode, bei der auf einer Stadtteilkarte in ausreichend großem Maßstab mit Stecknadeln wichtige Bezugs-, Versorgungs- und Aufenthaltsorte markiert, im umgekehrten Sinn aber auch Angsträume und Hindernisse definiert werden können. Mit mehreren, per Faden verbundenen Pins können auch bevorzugte Wegeverbindungen dargestellt werden.
Im Ergebnis können auf den Karten räumliche Interaktionsmuster, natürliche und künstliche Hindernisse, sowie Lage und Umfang von Einrichtungen zur Grundversorgung im Sinne von Soll-Ist-Vergleichen erkannt werden. Aus den Fragebögen können Daten zur Sozialstruktur wie Alter, Arbeitslosigkeit, Migrationshintergründen gewonnen werden. Anhand von Fragen zum Bewegungsradius kann die Qualität des ÖPNV beurteilt und Erkenntnisse gewonnen werden, wie intensiv auch andere Orte einer Stadt genutzt werden oder ob sich das tägliche Leben überwiegend im nahen Wohnumfeld abspielt.
4.3 Stadtteilbegehungen
Die vorgenannten Ergebnisse können vertiefend durch Quartiersbegehungen mit Akteuren und Schlüssel-personen, dokumentiert als Foto- und Videostreifzüge, qualitativ überprüft werden.
Als weiterer Effekt kann bei den teilnehmenden Personen ein intensiveres Kennenlernen und Erleben des eigenen Nahumfelds erreicht und Interesse an einer Mitarbeit zur Umgestaltung und Verbesserung geweckt werden – aus Nutzern werden Akteure.
4.4 Individuelle Infrastrukturtabellen
Anstelle vorgegebener Themen in klassischen Fragebögen können in Tabellen mit Zeilen und Spaltenform in mehreren Zeilen eigene Aussagen zu verschiedenen Infrastrukturbereichen wie Einkauf und Versorgung, Ausgehen, Essen und Trinken, Bildung und Kultur, Sport und Gesundheit offene, angegeben und die Häufigkeit der Nutzung in verschiedenen Spalten differenziert werden.
Die offenen Fragestellungen können ergänzende, neue Informationen liefern und für die verschiedenen Infrastrukturthemen aufzeigen, wo sich „Leerstellen“ im Quartier befinden oder Angebote schlicht nicht bekannt sind.
4.5 Strukturierte Sozialraum-tagebücher
Vertiefende Informationen über Tätigkeiten und Aktionsradien außerhalb der eigenen vier Wände liefern über einen bestimmten Zeitraum geführte Sozialtagebücher.
Im Ergebnis werden einerseits individuelle, subjektive Aktions- und Bewegungsräume sichtbar, die oft nicht mit kommunalen Quartiersvorstellungen deckungsgleich sind.
Auf der anderen Seite kann eine intensive Auseinandersetzung mit der eigenen Wohnsituation und Lebensqualität insbesondere für ältere Menschen eine Chance bedeuten, ihren aktuellen Lebensmittelpunkt Quartier neu und intensiver als bisher zu entdecken. Wenn durch einen Austausch im Anschluss an die Auswertung und Diskussion der Tagebücher gemeinsame Aktivitäten entstehen und Anregungen gegeben werden, neue Bereiche zu besuchen, können bestehende Ängste und Vorurteile abgebaut werden.
4.6 Multifaktorenanalyse
Rechnergestützt sind aktuell vielfältige Kombinationen aus der Analyse und Auswertung statistischer und struktureller Datenerhebungen mit klassischen Befragungsmethoden der Bewohnenden und Nutzer zur Definition sinnvoller Quartiersabgrenzungen möglich.
Mithilfe von Algorithmen sind indexbasierte Auswertungsverfahren möglich geworden, die individuelle Wichtungen einzelner Aussagen für den Gesamtzusammenhang berücksichtigen können und somit differenziertere, aussagekräftigere Ergebnisse liefen können.
G. Vornholz spricht hier von der Umwandlung von Big Data in Smart Data, um große komplexe oder sich ändernde Datenmengen analysieren und neu vernetzen zu können.
5. Konzeptbewertungen
5.1 Wohnumfeldabgrenzungen
Im Vergleich der von mir zum Thema untersuchten Konzepte und Analysen bilden sozialräumliche Wohnumfeldbetrachtungen mit der Definition von Quartieren als Wohn- und Lebensmittelpunkt die weitaus größte Gruppe. Das ist für mich in mehrfacher Sicht plausibel und nachvollziehbar.
Große bestandshaltende Wohnungsunternehmen sind an einer möglichst hohen Mieterzufriedenheit interessiert. Aktuelle Untersuchungen haben ergeben, dass dem Teilbereich Wohnumfeld mit bis zu 40% eine höhere Wertigkeit als den beiden übrigen Bereichen Wohnung/Wohngebäude und Service/Kundenorientierung mit je ca 30 % beigemessen wird. Sorgfältig gestaltete nähere Wohnumfeldbereiche und eine gute Nahversorgung tragen also wesentlich zur Kundenzufriedenheit und zu einer verstärkten Nachfrage in diesen Gebieten bei.
Aus Vermarktungssicht lassen sich in attraktiven urban gemischten Wohngegenden höhere Verkaufspreise und damit höhere Renditen erzielen, das Quartiersimage ist ein entscheidender Faktor.Städte und Kommunen sind an stabilen gemischten Stadteilen und kleinmaßstäblicheren Unterteilungen interessiert, da in sozial schwachen Stadtbereichen das soziale Miteinander wenig ausgeprägt ist und es häufiger zu einer Segregation statt Integration, insbesondere von Bewohnenden mit Migrationshintergrund kommt. Ein kleinräumlich definiertes
Quartiersmanagement kann direkter und ortsbezogener für lokale Verbesserungen sorgen als übergeordnete städtische Förderungen, idealerweise in Verbindung mit Wohnungsunternehmen und -genossenschaften und deren gleichen Interessen an intakten Nachbarschaften.
In allen aktuellen Untersuchungen und Abgrenzungsansätzen wird der Begriff der historischen „europäischen Stadt” als Leitbild für eine lebenswerte intakte und flexible Urbanität zitiert. Das Nachkriegsideal der aufgelockerten, nach Funktionen getrennten Stadt, aus Wohnungssicht mit den sogeneannten „Schlafstädten“ wird nur noch als Ausgangspunkt für Wohnumfeldverbesserungen und Betätigungsfeld für Quartiersmanagementkonzepte angesprochen. Empfohlen wird eine möglichst große Mischung der Grundfunktionen Wohnen, Arbeiten, Versorgen und Freizeitaktivitäten auf engem, auch für Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit eingeschränkter Mobilität gut erreichbarem Raum.
Vor dem Hintergrund einer in den kommenden Jahrzehnten schrumpfenden, alternden Bevölkerung mit zunehmend vielfältigeren Lebensentwürfen bieten attraktive und gemischtgenutzte Quartiere in weniger stark nachgefragten Gegenden der Bundesrepublik Deutschland Anker- und Gegenpunkte, die der Sogwirkung der wachsenden Metrolpolregionen entgegenstehen. Im Vergleich zu den beengteren Verhältnissen in den Großstädten ist dann oft eine höhere Lebenqualität erreichbar, die ein geringeres Jobangebot kompensieren kann. Erleichtert auch durch die zunehmende Digitalisierung und damit einer Flexiblisierung vieler Arbeitsplätze. Mehr dazu im folgenden Abschnitt.
Entsprechende Quartiersbetrachtungen unter dem Aspekt Nutzungsvielfalt können hierzu gute, fundierte Grundlagen schaffen.
Auf der anderen Seite tragen in Metropolregionen wie Hamburg, Berlin-Brandenburg, München, Stuttgart, Frankfurt oder dem Rheinland alle Bestrebungen, Quartiere als robuste Mikro- oder Miniwelten zu entwickeln und zu stärken, zur stärkeren Identifikation mit dem eigenen Wohnumfeld bei.
Aktuelle Trends zum mobilen Arbeiten, Homeofficeangebote oder Co-Working Spaces ermöglichen häufiger als früher eine Rückführung von Arbeitsplätzen in das nahe Wohnumfeld und tragen durch den Entfall langer Wege zum Arbeitsplatz zu mehr öffentlichem Leben im eigenen „Kiez“ sowohl in den Pausen tagsüber als auch nach Feierabend bei. Brachliegende, ehemals industriell genutzte innerstädtische Quartiere können in vielfältig nutzbare Szeneviertel für Startups und PropTechs (Beispiele Phoenixhof und Kolbenhöfe in Hamburg) umgewandelt werden.
Quartiersabgrenzungen aus sozialräumlicher Sicht und darauf aufbauende Analysen können sowohl für städtische Kommunen als auch Projektentwickler Chancen, Defizite, Perspektiven und Risiken aufzeigen, also zu fundierten Investitionsentscheidungen beitragen.
Unter dem Gesichtspunkt Aufwertung von sozial schwachen oder schwierigen Wohnvierteln liefern Wohnumfeldbetrachtungen und -analysen unter dem Leitbild „europäische Stadt“ die Grundlage für Quartiersmanagementarbeiten zur Entwicklung und Stärkung von eher monofunktional genutzten Wohnquartieren.
Vernetzung mit den übrigen Stadtgebieten beispielsweise durch organisierte Ausflüge, oder umgekehrt durch übergeordnete Veranstaltungen, Konzerte und Aktionen, die Bewohnende der übrigen Stadtteile zu einem Besuch dieser „unbekannten“ Stadtviertel animieren und somit zu einem erweiterten Austausch und Kontakten führen.
Eine geförderte und begleitete Bürgerbeteiligung („Bürger-Profi-Mix“) führt zu stärkerer Auseinandersetzung der Bewohnenden mit dem näheren Umfeld, Identifikation und Aneignung und damit letztlich auch zu einer größeren Wohnzufriedenheit [1].
Eine Einbindung schon in der Projektentwicklung macht später oft aus Beteiligten Akteure.
Aber: Nicht alle gesellschaftlichen Probleme sind auf Quartiersebene lösbar!
5.2 Einflüsse des Megatrends Digitalisie-rung
Die sich stetig weiter entwickelnden digitalen Technologien, die darauf aufbauenden neuen Anwendungen und die zunehmende Integration in den Alltag, kurz Digitalisierung, wird auch als 4. Industrielle Revolution bezeichnet. “…Beim nächsten Schritt, dem „Internet der Dinge“ (engl. Internet of Things, IoT), erfolgt die Vernetzung von Objekten (realer Welt) und virtueller Welt, um einen Informationsaustausch zwischen diesen zu ermöglichen..
Durch die Analyse von öffentlich zugänglichen, internen Daten aus der Wohnungswirtschaft und Social-Media-Daten können Einstellungsänderungen von Nutzern zu Lagen frühzeitig erkannt und wertvolle Zeit zur Gegensteuerung gewonnen werden, die aufgrund der langen Vorlaufzeit für Planung, Genehmigung und den Bau neuer Projekte erforderlich ist.
Neuartige Algorithmennutzungen von Nachbarschaftsportalen wie nebenan.de oder Bereichseinteilungen für Lieferdienste wie Lieferando und Gorillas können zusätzliche Hinweise auf sinnvolle Quartiersabgrenzungen liefern.
Sofern die technischen Voraussetzungen mit ausreichend schnellen Datenleitungen und Übertragungsbandbreiten gegeben sind (was leider in Deutschland nicht überall der Fall ist), bedeutet die zunehmende Digitalisierung Chancen für eine zumindest teilweise Rückverlagerung von Arbeitskräften in das eigene Wohnumfeld oder Quartier (mobiles Arbeiten, Homeoffice oder durch Nutzung von Coworking-Spaces). Die räumliche Trennung zwischen Wohnen und Arbeiten wird zugunsten eines tagsüber lebendigeren, durchmischten Quartiers reduziert. Und nebenbei das innerstädtische Verkehrsaufkommen durch den tägliceh Berufsverkehr reduziert.Auf der anderen Seite könnte sich aber auch ein gegenteiliger Effekt in Ballungsräumen einstellen, da gute Datenanbindungen an das eigene Unternehmen das preisgünstigere Wohnen im Umland von Ballungsräumen oder in weiter entfernten Gebieten mit hohem Freizeitswert attraktiver werden lassen. In Folge würde es zu sozialen Entmischungserscheinungen in den Großstädten kommen, da vor allem jüngere Familien fortziehen würden, ältere Menschen aber nach der Berufstätigkeit nicht mehr die gewohnte Lebensumgebung wechseln möchten, wie Umfragen zur Wohnzufriedenheit zeigen.
Außerdem könnte die Digitalisierung bedeuten, dass sich der aktuelle Trend, als Digital Global nomad im Dienstleistungssektor ortsungebunden die Welt kennenlernen zu können, zu einem langfristigen Modell verstärken und zum Abbau von sozialen Gemeinschaften räumlich vor Ort führen kann.
5.3 Nachhaltigkeitsbestrebungen
Spätestens seit dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes vom 24.03.2021, die bisher vorgesehenen nationalen Regelungen des Klimschutzgesetzes vom 12.12.2019 seien unzureichend zur Erreichung der Klimaschutzziele 2030 und daher nicht mit dem Grundgesetz vereinbar, ist das Thema Nachhaltigkeit omnipräsent und wird auch für die Immobilienwirtschaft relevanter als bisher.
Aus Projektentwicklersicht können nachhaltig geplante Projekte aktuell besser vermarktet werden und eine höhere Rendite erzielen, Leuchtturmprojekte für weitere Quartiersentwicklungen darstellen und stärken unter ökologischen und sozialen Aspekten wesentlich das Gesamtquartiersimage.
Aus Großinvestorensicht wie Pensionskassen werden zunehmend nachhaltig gemanagte Portfolios und Fonds bevorzugt.
Auch ökonomisch sind Quartiersabgrenzungen unter Nachhaltigkeitsaspekten besonders für bestandshaltende Wohnungsunternehmen interessant, da es im Vergleich finanziell günstiger ist, ganze Quartiere energetisch zum Beispiel über gemeinsame Blockheizkraftwerke zu ertüchtigen als aufwändige Einzeldämmmaßnahmen an den Bestandsbauten vorzunehmen. Als Beispiel sei die Pressemitteilung der SAGA in Hamburg vom 22.06.2020 genannt.
Eine Umkehrung dieses Trends ist meiner Meinung nicht zu erwarten. In Großstädten steigt seit Jahren das Interesse an einer nachhaltigeren Lebenweise, erkennbar beispielsweise an der wachsenden Zahl von Bioläden und -produkten, entsprechend vermarktbare Viertel werden auch trotz langfristig sinkender und alternder Bevölkerungszahlen stärker nachgefragt bleiben.
Für schrumpfende Regionen können Nachhaltigkeitsbemühungen einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil bei der schon jetzt vorhandenen und künftig verstärkten Entwicklung des Wohnungsmarktes von einem Nachfrage- zu einem Angebotsmarkt darstellen.
5.4 BeEinflussbarkeit von starken und schwachen Quartieren
Zusammenfassend zeigen die vorgenannten Konzepte und Ansätze vielfältige Perspektiven zur Weiterentwicklung von Quartieren auf, die in stabilen gemischten Vierteln gut funktionieren können.Zu kurzfristig kaum lösbaren Problemen kommt es jedoch aus eigener Erfahrung in sogenannten schwachen Wohngegenden, wenn größere migrantische Gruppen auf einmal mit ausreichenden und bezahlbaren Wohnungen versorgt werden müssen wie in Folge der Grenzöffnungen 2015.
In Hamburg war die Aufnahme überwiegend nur in Wohnungen der kommunalen SAGA und von Wohnungsbaugenossenschaften möglich, die sich gegenüber der Stadt Hamburg zur Aufnahme von Kontingenten verpflichtet hatten. Sie verfügen zwar über entsprechende Bestände, die sich aber häufig in größeren Einheiten und in bestimmten Stadtvierteln konzentrieren. Laut Rückmeldungen der örtlichen Geschäftsstellen führt der starke Zuzug von neuen Mitbewohner mit migrantischem Hintergrund in diesen nur wenigen Stadtbereichen häufig zu Störungen des bestehenden Sozialgefüges. Langjährige „Anker“-Mieter oder -Eigentümer verlassen das Quartier, die Vernetzung mit anderen Stadtteilen nimmt ab.
Eine Lösung könnte aus meiner Sicht nur durch eine gleichmäßige und gleichberechtigte Verteilung auf alle Stadtteile erfolgen, um die Akzeptanz und eine Integration zu fördern. Im Bestand als dominierendem Wohnungsanteil scheitert dieser Ansatz aber an einer ungleichen Verteilung der kommunalen und genossenschaftlichen Bestandsmietwohnungen in den Stadtteilen. Nur bei den im Vergleich viel geringeren Neubauten ist dies im Rahmen des Drittelmixes Eigentums-, frei finanzierte und öffentlich geförderte Wohnungen umsetzbar.
Ein weiteres Risiko für stabile Lebensumfeldquartiere stellen aktuelle Prognosen einer Zunahme von Altersarmut und sich abzeichnendem Pflegenotstand mit den Folgen steigende Mietausfälle und höherem Versorgungsaufwand für eine alternde Bevölkerung dar.
No Comments