2006-1 Rotterdam-Report
Liebe Freunde,
erst mal danke für die Anrufe, SMS und guten Wünsche zu meiner neuen Arbeitsstelle! Es hat mich sehr gefreut und aufgemuntert, nachdem mir so nach und nach klargeworden ist, worauf ich mich eingelassen habe.
Und da ich immer neugierig Tanjas Reiseberichte aus allen möglichen fernen Ländern gelesen habe, war klar – jetzt muss ich selbst mal ran.
Am Sonntag, den 23.10.06, stellte sich das erste mulmige Gefühl kurz hinter der deutsch-niederländischen Grenze ein.
Bis dahin war die Zeit wie im Fluge vergangen, beginnend mit der Fahrt zum Vorstellungsgespräch am 3.10. und den Gedanken in dieser Reihenfolge „Mensch, mich lädt ein bekanntes internationales Architekturbüro ein…“ / „Mist, das Vorstellungsgespräch ist wirklich auf Englisch“ / „angenommen, ich bekäme eine Zusage, würde mich wohl hier wohlfühlen?“ Ehrlicherweise habe ich nach dem Gespräch nicht richtig an den Erfolg geglaubt und versucht, die Gedanken daran so weit wie möglich nach hinten zu schieben..
Tja, und dann kam wirklich der Anruf mit der Frage, ob ich auch schon in einer Woche anfangen könne. Ich habe erst einmal geschluckt und dann sofort zugesagt, schließlich hatte ich eine Stelle im März in Berlin nicht bekommen, weil ich nicht sozusagen am nächsten Tag anfangen konnte. Anschließend brauchte ich dann aber eine Stunde, um zu realisieren, was da gerade passiert war..
Zum Glück hat mich Gerd in der Entscheidung bestärkt.
Eine Woche später hatte ich die wichtigsten Sachen geregelt, die derzeitige Stelle als freier Mitarbeiter gekündigt, einen kleinen Ausstand gegeben, ein möbliertes Übergangszimmer in Rotterdam über das Internet gefunden, ausreichend Sachen für die erste Woche (einschließlich Fahrrad, schließlich ging es nach Holland!) ins Auto gepackt und selbst nach 2 Stunden Autobahn fielen mir keine grundlegenden Dinge ein, die ich vergessen hatte.
Und dann stellte ich plötzlich fest, dass im Autoradio keine deutschsprachigen Sender mehr zu empfangen waren…
Den ersten Abend habe ich in einer kleinen Pension verbracht, die mir der Baedecker-Reiseführer empfohlen hatte, ca. 6,5 m² + Dusche im 4. Stock für 50,00 €, dafür aber direkt an einem malerischen Hafenbecken gelegen und in Fußgängerentfernung zum neuen Büro. Ich habe einen kleinen Abendspaziergang gemacht und mich ganz schön allein und fremd gefühlt.
Am nächsten Morgen nieselte es leicht. Dafür war es im Büro gleich sehr nett – ich wurde erst mal durch alle Räume der beiden Gebäude geführt und allen neuen Kollegen vorgestellt, mindestens 50 Leuten. Fast alle sind jünger als ich, die Struktur ist etwa mit dem Büro Kauffmann Theilig in Stuttgart vergleichbar, nur kommt hier die Hälfte der Mitarbeiter aus Dänemark, Deutschland, Italien, Polen, Portugal und den USA, wie ich später herausbekommen habe.
Anschließend bekam ich das Office-manual in die Hand gedrückt, ein Fahrrad geliehen und die Aufgabe, mir als erstes beim zuständigen Amt eine Sozialversicherungsnummer zu besorgen – oder zumindest einen Termin dafür. Mittlerweile regnete es in Strömen und ich kam ziemlich nass im zuständigen Gebäude an.
Da habe ich dann gleich festgestellt, dass im Vergleich die niederländischen genauso geschickt wie die deutschen Behörden sind. Einen Termin für die Versicherungsnummer würde ich nämlich erst bekommen, nachdem ich eine Registrierung bei der Stadt Rotterdam nachweisen könne, dazu wären die Vorlage eines Mietvertrages und ein weiterer Termin notwendig. Übrigens muss man zur Eröffnung eines niederländischen Kontos für die Gehaltsüberweisungen die Sozialversicherungsnummer angeben, also schied auch dieser Antrag erst mal aus.
Der Rest des Tages verlief sehr ruhig. Wie angekündigt, wurde ich der Projektgruppe für das neue zentrale Eingangsgebäude der Universität Leipzig einschließlich Audimax und Aula in Form einer teilweise rekonstruierten, nach dem 2. Weltkrieg zerstörten Kirche zugeteilt. Ein Rechnerplatz war (noch) nicht frei und der nächste Präsentationstermin stand kurz bevor, daher bekam ich nur eine Einführung ins Projekt und einen Ordner mit den bisherigen Besprechungsprotokollen in die Hand gedrückt.
Abends kam dann die Überraschung, mein Vermieter konnte mir das Zimmer nur unter der Hand ohne Mietvertrag geben, da er sonst aufgrund der anderen Steuereinstufungen wesentlich mehr (als ohnehin schon) für das Zimmer nehmen müsse. Also erst mal nichts mit Registrierung und Sofi-Nummer…. Aber ich brauchte ja eine Unterkunft und habe das Zimmer trotzdem zumindest für den ersten Monat genommen.
Der Stadtteil Hillesluis, in dem ich jetzt wohne, liegt zwar nur 4 km von der Innenstadt entfernt, hat aber einen sehr hohen Ausländeranteil – und das Straßenbild sieht doch deutlich gemischt aus. Das Zimmer liegt zwar leider an einer etwas belebteren Einkaufsstraße, ist aber o.k., die Wohnung teile ich mir mit zwei Mitbewohnern, 22 und 18 Jahre alt.
Dienstag Abend hatte ich meinen bisherigen Tiefpunkt. Es nieselte immer noch, dazu gab es kräftigen Wind und im Büro wieder nichts Richtiges zu tun, abgesehen vom Durchforsten der Bürounterlagen nach den relevanten deutschen Baunormen. Auf der Heimfahrt zurück abends im Dunkeln war ich dann fest entschlossen, die Probezeit durchzuhalten, mich aber dann rauswerfen zu lassen und nach Hamburg zurückzukehren.
Ich konnte nur noch an die schöne selbst eingerichtete Wohnung in Hamburg, den Freundeskreis, die Stadt Hamburg und „all die geordneten Verhältnisse“ im Vergleich zu einem kleinen möblierten Zimmer, Mitbewohnern, die man sich nicht aussuchen kann, einer Stadt, in der ich mich nicht auskenne mit einer Sprache, die ich nur in Bruchstücken verstehe, wieder einer neuen Bürostruktur, die man sich erarbeiten muss – und vor allem der Perspektive, dass dies für die nächsten Jahre meine Lebensumgebung sein würde – denken.
Ein Gefühl, als wenn einem der Boden unter den Füßen weggezogen worden ist und man ganz allein einer fremden Umgebung gegenüber steht (obwohl es hier nur um die Niederlande geht und nicht zum Beispiel um Mittelamerika, von wo aus man nicht mal so eben fürs Wochenende zurück kann).
Glücklicherweise gab es gegen diese Heimwehgefühle noch ein entscheidendes Gegenargument, hier die Perspektive einer festen Anstellung für interessante Bauprojekte, in Hamburg nur freie Mitarbeitsjobs für den jeweils nächsten Monat oder vielleicht eine neue Festanstellung, aber wahrscheinlich dann nicht in Hamburg, also auch mit einem Ortswechsel verbunden.
Na ja, ab Mittwoch wurde es besser. Ganz wichtig, es brach noch einmal der Spätsommer aus, dadurch sah draußen schon alles viel freundlicher aus. Im Büro konnte ich einige kleine Verbesserungsvorschläge für das Projekt anbringen und hatte nicht mehr so ganz das Gefühl völliger Nutzlosigkeit.
Und vor allem, ich habe die Zeit und das Internet genutzt, um Informationen über all die Dinge, die man als Deutscher in den Niederlanden beachten und regeln muss, herauszufinden. Und siehe da, wahrscheinlich gibt es per Gesetz für mich eine Hintertür: da ich noch die Wohnung in Hamburg arbeite, gelte ich als Grenzarbeiter, der mindestens einmal pro Woche nach Hause zurückkehrt. Dann ist auf einmal kein Wohnvertrag, sondern nur eine Erklärung notwendig, dass ich unter der Woche z. B. in der Wohnung eines Freundes übernachten kann. Mal sehen, ob das klappt, da muss mein Vermieter jetzt mit dieser Erklärung ran!
Dias Zauberwort „Grenzarbeiter“ funktionierte auch für die Sofi-Nummer, am Freitag bekam ich auf einmal einen Termin, und benötige dazu auch nur noch meinen Personalausweis und Arbeitsvertrag.
Außerdem konnte ich kurzfristig einen Platz beim Goethe-Institut in „Niederländisch 1“ bekommen, der Kurs fand am Donnerstag Abend glücklicherweise erst zum vierten Mal statt. Allein das Gefühl, alles Mögliche angeschoben zu haben, um schnell die Landessprache lernen zu können, macht einiges aus.
Am Freitag passierte noch etwas Tolles. Da der Chef und die „associates“ aus dem Haus waren, beschlossen alle, die letzte halbe Stunde der Woche zu schwänzen und in der Kneipe um die Ecke zu verbringen. Ich wurde dauernd gefragt, wie es mir denn hier gefallen würde. Da habe ich mich schon fast wie zuhause gefühlt und es ein bisschen bedauert, dass ich noch am gleichen Abend für das Wochenende nach Hamburg fahren wollte.
Für die niederländischen Autobahnkreuze bin ich noch zu dusselig. Wer sich über die Wegeführung auf deutschen Autobahnkreuzungen aufregt, dem empfehle ich Rotterdam-Ridderk abends bei Dunkelheit, ein Spiegelkabinett ist dagegen eine bestens gekennzeichnete gerade 100 m-Bahn. Vor lauter Wut habe ich mich anschließend bei Utrecht nochmals verfahren und war erst auf irgendwelchen Landstraßen und dann wieder zurück in Richtung Rotterdam unterwegs, bevor ich meinen Fehler korrigieren konnte.
Und dann empfing das Radio wieder deutsche Sender…
Erstmal viele Grüße und vielleicht demnächst ein Wiedersehen – oder Teil 2 des Hollandberichtes
Dieter